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Brocki-Mitarbeiter Roman Hostettler: «Mehr als nur ein Brockenhaus»

Manuel Frick

Viele träumen davon, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Wenige tun es. Mit dem aussergewöhnlichen Brockenhaus «Kramer» bereichern Roman Hostettler und seine Kompagnons die Lädeli-Szene in Lenzburg AG.

EXPERIMENT. Roman Hostettler (24) will nie mehr Vollzeit arbeiten und hat ein neues Projekt begonnen. (Fotos: Michael Schoch)

Es sieht eher aus wie ein Wohnzimmer von früher als wie ein Arbeitsplatz. Regale an den Wänden, Teppiche auf dem Boden, Sofas um einen Couchtisch und in der Mitte, wie in einem Esszimmer, Stühle und Tische. An einem sitzt Roman Hostettler. schwarz gekleidet, von der Sohle bis zum Scheitel, auch die mittellangen Haare sind pechschwarz. Hostettler dreht sich eine Zigarette, im Hintergrund spielt leise Elektro-Pop. Ein Kunde betritt den Laden, nein, wohl eher ein Kollege: Hostettler begrüsst ihn mit einer Umarmung und fragt ihn, ob er einen Kaffee möchte.

ALTES AUFWERTEN. Ein Getränk bietet er fast allen Kundinnen und Kunden an. Das gehört zum Konzept des Brockenhauses «Kramer» in Lenzburg. «Wir versuchen, etwas Einzigartiges zu machen», sagt Hostettler. Die Räume sind nicht überfüllt, sie ­tauschen die Waren stetig aus, und die Kundinnen und Kunden dürfen das Lokal auch als Begegnungsort nutzen. «Es stört uns nicht, wenn hier mal jemand seinen Laptop aufklappt.»

Hostettler und seine Kollegen betreiben auch Upcycling. Das heisst, sie finden für vermeintlich nutzlose Gegenstände eine neue Verwendung. Ein Beispiel steht in der Ecke: ein Radio aus den 1960er Jahren, Holzgehäuse, weisse Bespannung vor den Lautsprechern. In Zeiten von Digitalradio ein sinnlos gewordener Gegenstand, aber dank dem Einbau eines Bluetooth-Empfängers kann ein Smartphone an die noch immer funktionierenden Boxen angeschlossen werden.

Hostettler teilt seine Kundschaft in zwei Kategorien ein: Einerseits junge Menschen, die sich für einen bestimmten Stil interessieren und alte Gegenstände schätzen, «die qualitativ oft besser sind als ­Waren in herkömmlichen Geschäften». Andererseits über 50jährige, die oft Gegenstände abgeben, für einen Kaffee sitzen bleiben und aus ihrem Leben erzählen. Die Frau, die gerade eintritt, gehört zur zweiten Kategorie. Sie hält Hostettler einen Sack voller gebrauchter Plüschtiere unter die Nase. «Die nehmen wir nicht», sagt er, und fügt beinahe entschuldigend hinzu: «Das haben wir so abgesprochen.» – «Ach so», antwortet die Kundin mit einem Augenzwinkern. «Hier wird also basisdemokratisch entschieden.»

AUS ALT WIRD NEU: Mit ein paar kleinen Eingriffen peppt Roman Hostettler die alten Sachen auf, um sie dann wieder zu verkaufen.

ERFOLGREICHER START. Tatsächlich begreifen sich Hostettler und seine drei jungen Geschäftspartner – eine Schneiderin und zwei Jugendarbeiter – als Kollektiv, obwohl sie offiziell als Verein organisiert sind. Im Frühling 2018 hatten sich die vier zum ersten Mal getroffen, im Sommer war bereits ein Ladenlokal gefunden, im Herbst begann die Lokalgestaltung und das Einräumen. Die Eröffnung Mitte Januar 2019 bezeichnet Hostettler als vollen Erfolg: «Wir konnten an einem Tag eine ganze Monatsmiete einnehmen.»

«Am meisten gefallen haben mir bisher die Vorbereitungsarbeiten», sagt Hostettler. Er baute den Verkaufstresen und zwei Umkleidekabinen, war oft für sich alleine. Die Eröffnung war dann ein Bruch: «Plötzlich standen 50 Leute im Laden.» Und der Umgang mit der Kundschaft sei nicht immer einfach. So wollte eine Käuferin unbedingt den Preis der Tassen drücken. «Come on, sie kosten ja nur einen Franken pro Stück», habe er gesagt. Als sie stur blieb, gab er ihr die Tassen lieber gratis.

Meist seien die Kundinnen und Kunden jedoch unkompliziert. So wie die ältere Frau, die in einem der Regale eine Metallschale mit deutlich sichtbarer Patina entdeckt. «Was ist das für ein Material? Kann man das putzen?» fragt sie Hostettler. «Ja, kommen Sie mit», fordert er sie auf. «Ich sollte noch ein gutes Mittel in der Werkstatt haben.»

KAPUTTES REPARIEREN. Die Werkstatt im hintersten Raum ist Hostettlers Reich. Hier leimt er Stühle oder schleift Möbeloberflächen ab, um sie dann zu lackieren oder zu ölen. «Oft sind es simple Arbeiten. Viel mehr mache ich auch nicht. Ich will nicht ins Produkt reinpfuschen.» Wenn es nichts anderes zu tun gibt, dann kümmert er sich ums «Priisle», ums Anschreiben der Ware. Hostettler betreut das Brockenhaus jeden Donnerstag. «Jede und jeder von uns führt den Laden an einem der vier Tage, an denen wir offen haben», sagt er. «Daneben haben wir alle noch andere Jobs.» Hostettler arbeitet an zwei Wochentagen im Sekretariat des Aargauischen Gewerkschaftsbundes, einen weiteren als Operateur in einem Aarauer Kino. Anders wäre es finanziell auch gar nicht möglich: Zurzeit kann sich das Kollektiv noch keinen Lohn auszahlen.

VERALTETE STRUKTUREN. Das Arbeiten in verschiedenen Teilzeitjobs ist für Hostettler jedoch keine Notwendigkeit, sondern entspricht einem lange gehegten Wunsch. Seit seiner Lehre hat er nie mehr Vollzeit gearbeitet. Von Montag bis Freitag das gleiche zu machen, das habe ihn gestresst. In seinem Umfeld stiess er mit dieser Haltung nicht nur auf Verständnis: «Die Woche hat doch fünf Tage», habe es geheissen, als er sich nach Lehrabschluss umorientierte und ein Teilzeitpraktikum in einem Theaterbüro begann. «Ich finde das Festhalten an diesen Strukturen veraltet», sagt Hostettler. «Man kann doch für etwas brennen, auch wenn man nicht Tag und Nacht daran denkt. Vielleicht sogar noch mehr.»


Roman Hostettler Vielseitig

Nach verschiedenen Jobs in Büros und im Verkauf arbeitet Hostettler heute neben seinem (noch) ehrenamtlichen Engagement im Brockenhaus ­«Kramer» an einem Wochentag als Kinooperateur und an zwei Wochentagen im Sekretariat des Aargauischen Gewerkschaftsbundes. Mit diesem 60-Prozent-Pensum verdient er 2700 Franken. Hostettler ist Mitglied der Gewerkschaft Unia.

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